| Veranstaltung: | Landesmitgliederversammlung | 24. - 26.10.2025 | Winterbach |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | 9 V-Anträge |
| Antragsteller*in: | FINTA*-Rat |
| Status: | Eingereicht |
| Angelegt: | 17.10.2025, 10:55 |
A3: MENSCHENRECHT GESUNDHEIT - FÜR EINE GENDERINKLUSIVE GESUNDHEITSVERSORGUNG
Antragstext
Gesundheit ist ein Menschenrecht – doch besonders FINTA-Personen (Frauen, inter,
nicht-binäre, trans und agender Menschen) erleben im medizinischen System
tagtäglich strukturelle und individuelle Ausschlüsse.
Die Grüne Jugend Baden-Württemberg setzt sich mit diesem Antrag für eine
gerechte und inklusive Gesundheitsversorgung ein. Gesundheit darf nicht länger
davon abhängen, welchem Geschlecht man zugeordnet wird, welchen Körper man hat,
wo man lebt oder welchen Status man besitzt!
1. Genderinklusive Gesundheitsversorgung
Gesundheit und Gesundheitsversorgung sind Grundrechte. Doch noch immer ist der
Zugang zu medizinischer Versorgung in Deutschland von Faktoren wie Gender,
Herkunft, Einkommen, Aufenthaltsstatus oder Versicherungsstatus abhängig.
Besonders betroffen sind FINTA-Personen (Frauen, inter, nicht-binäre, trans und
agender Menschen), Menschen mit Rassismuserfahrungen, Menschen mit Behinderung
und solche mit prekärem Aufenthaltsstatus.
Zum Beispiel geben 35-41% der befragten TIN* Personen an, in den letzten 12
Monaten im sozialen oder gesundheitlichen Bereich diskriminiert worden zu sein.
Weitere Diskriminierung von TIN*-Personen zeigt sich bei der Binarität in
Datenerhebung, Krankenakten und Formularen, fehlende queersensible Angebote
außerhalb großer Städte, Misgendering, Verweigerung notwendiger Behandlungen und
Gewalt gegen inter Kinder.
Migrantisierte Personen, insbesondere mit eingeschränkten Deutschkenntnissen
oder aus bestimmten Herkunftsregionen, nutzen seltener psychotherapeutische oder
präventive Gesundheitsangebote - ein Hinweis auf strukturelle Barrieren.
Deshalb fordern wir:
Versorgung neu aufstellen, durch flächendeckende queer- und transsensible
Anlaufstellen – auch in ländlichen Regionen , Community Clinics mit Peer-
Beratung ergänzend zu hausärztliche Strukturen, genderneutrale Dokumentation:
frei wählbare Geschlechtsmarker und Pronomen am Beispiel Casa Kuà – Berlin,
Trans Health Clinics
Zugang zu Gender Affirming Care für nicht-binäre Personen.
Beratungsangebote für TIN* ausbauen, Kostenübernahme für geschlechtsangleichende
Behandlungen als Regelleistung und Regelanspruch für Trans*-Personen auf
Erbgutkonservierung.
Eine elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete.
Öffentliche Informationen bereitstellen & Barrieren abbauen, indem
Dolmetschdienste in Praxen als Regelangebot verfügbar sind, Digitale Tools, die
queersensible, mehrsprachige und niederschwellige Information und Formulare
bereitstellen. Insbesondere Informationen zu Hormonkliniken und -ärzt*innen,
beispielsweise über Aufklärungskampagnen oder eine speziell dafür eingerichtete
Website, sowie den bedarfsgerechten Ausbau der Angebote vorantreiben.
Verbindliche Qualifizierung: Pflichtschulungen für medizinisches Personal in
queerer/trans/inter Gesundheitsversorgung, Rassismuskritik und trauma-sensibler
Pflege.
Empowerment und Peer-Angebote: Community-basierte Gesundheitsbildung,
Finanzierung und institutionelle Unterstützung für Selbstvertretungsstrukturen
und Peer-Beratung.
Mehr Kompetenzen und Mittel für Kommunen für die kommunale Gesundheitsplanung
nach kanadischem Vorbild.
Finanzierung durch ein solidarisch getragenes, nicht-profitorientiertes
Gesundheitssystem.
2. Forschung zu FINTA*-Gesundheit fördern
Ein großer Teil unserer aktuell genutzten Medikamente basiert auf
Studienergebnisse, die in der Vergangenheit an Personen biologisch männlichen
Geschlechts erprobt wurden. Es gilt die “Männliche Norm”. Frauenkörper werden
somit teilweise auch bis heute, mit der Begründung, zu komplex und unkonstant zu
sein, von Studien ausgeschlossen.
Das Ausschließen weiblicher Körper in der Forschung, verhindert somit eine
adäquate Behandlung abseits biologisch männlicher Körper. Die Unterschiede der
Körper verschiedener Geschlechter sind sogar in den Zellen zu finden. So
verhalten sich die Körper beispielsweise bei der Übertragung von
Schmerzsignalen, der Verstoffwechslung bestimmter Medikamente oder auch den
Ausformungen von Erkrankungen unterschiedlich.
Die Leitsymptome verschiedener Erkrankungen werden vor allem für den männlichen
Durchschnittskörper gelehrt und vermittelt. Beispiel: Bei einem Koronarinfarkt -
klassisch Herzinfarkt - gilt als gelehrtes Hauptsymptom Schmerzen in der Brust
mit Ausstrahlungen im linken Arm. Frauen leiden jedoch sehr häufig bei einem
Koronarinfarkt an unspezifischen Symptomen wie Übelkeit und Rücken-&
Oberbauchschmerzen, welche die zeitnahe Feststellung verzögern, oder dazu
führen, dass die Ernsthaftigkeit hinter den Symptome gar nicht erkannt wird. Das
Ganze kann tödliche Folgen für die Frauen haben.
Der weibliche Zyklus und dessen Hormonschwankung in den unterschiedlichen 4
Zyklusphasen beeinflussen den biologisch weiblichen Körper ungemein. Es konnte
herausgefunden werden, dass der Zyklus bei dem Wirkungsmechanismus von
Medikamenten beispielsweise gegen Psychosen, bei Antihistaminika oder
Herzmedikation abhängig vom Zyklus der Frau ist.
Menschen mit Rassismuserfahrungen – insbesondere BIPoC (Black, Indigenous and
People of Colour) – sehen sich im Kontakt mit dem Gesundheitssystem weiterhin
mit strukturellem und individuellem Rassismus konfrontiert. Ein gravierendes
Beispiel ist der Mangel an medizinischer Expertise im Umgang mit
unterschiedlichen Hauttönen („Skin of Colour“). Dieser Wissensmangel kann dazu
führen, dass Krankheiten wie Hautausschläge, Neurodermitis oder auch Borreliose
auf dunkler Haut zu spät, falsch oder gar nicht diagnostiziert werden.
Deshalb fordern wir:
Reform medizinischer Ausbildung: Curriculum-Reform in Medizin, Pflege,
Psychotherapie – Diversität muss Teil der Ausbildung sein. Beteiligung von
FINTA- und BIPoC-Expert*innen an Lehrplänen, Fachgremien und Forschung. Die
Landesregierung wird aufgefordert, medizinisches Personal verbindlich im
Erkennen und Behandeln von Symptomen auf verschiedenen Hauttönen zu schulen.
Die geschlechtergerechte, vielfältige und diskriminierungssensible Überarbeitung
von medizinischen Lehr- und Schulbüchern an Hochschulen und Ausbildungsstätten
im Land. Die bisherige Abwesenheit oder verzerrte Darstellung von FINTA-Körpern
– selbst in Fächern wie der Gynäkologie – trägt zur strukturellen Unsichtbarkeit
und falschen medizinischen Versorgung bei.
Den Ausbau von Endometriose Zentren in Baden-Württemberg
Die Landesregierung wird aufgefordert, gezielt Forschung zur gesundheitlichen
Situation von trans Personen und BIPoC zu fördern. Der eklatante Mangel an Daten
und Studien zu ihren spezifischen Bedarfen führt zu systematischen
Versorgungslücken und diskriminierenden Behandlungspraxen.
3. Reproduktive Gerechtigkeit ermöglichen – Selbstbestimmung garantieren
Reproduktive Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht – und es darf nicht weiter
von Wohnort, Herkunft, ökonomischem Status, Geschlechtseintrag oder körperlichen
Voraussetzungen abhängen. In Baden-Württemberg ist der Zugang zu
Schwangerschaftsabbrüchen und reproduktionsmedizinischen Maßnahmen jedoch
vielerorts unsicher, diskriminierend oder gar unmöglich. Gemeinsam mit Prof. Dr.
Liane Wörner, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht,
Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie an der Universität
Konstanz und Mitglied der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission für
reproduktive Rechte, haben wir auf Basis eines intensiven Austauschs
Handlungsfelder identifiziert, in denen das Land handeln muss.
Prof. Wörner begleitet die bundespolitische Reform des §218 StGB aus
juristischer, menschenrechtlicher und feministischer Perspektive. In unserem
Gespräch hat sie deutlich gemacht: Die derzeitige Gesetzeslage verstärkt
strukturelle Ungleichheit, kriminalisiert medizinische Versorgung und behindert
eine selbstbestimmte Familienplanung. Ihr Engagement für reproduktive
Gerechtigkeit – von gerichtlichen Klagen bis zur rechtspolitischen Beratung –
war wegweisend für die Entwicklung dieses Antrags.
Deshalb fordern wir:
§ 218 StGB abschaffen – bis dahin: Spielräume nutzen!
Wir schließen uns der Empfehlung der Kommission an: Schwangerschaftsabbrüche
gehören entkriminalisiert. Der § 218 StGB ist ein Relikt, das die körperliche
Autonomie von FINTA* in Frage stellt. Bis zur Abschaffung fordern wir: Das Land
muss alle rechtlichen und finanziellen Spielräume nutzen, um den Zugang zu
gewährleisten und zu erleichtern.
Flächendeckende, kostenfreie und diskriminierungsfreie Versorgung mit
Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen.
Wir fordern eine landesweite Versorgung mit Verhütungsmitteln – kostenlos und
barrierearm, insbesondere für junge Menschen, Menschen mit Behinderung, prekär
Lebende sowie trans*, inter* und nicht-binäre Personen. Schwangerschaftsabbrüche
müssen überall im Land medizinisch sicher, diskriminierungsfrei und kostenlos
verfügbar sein.
Bessere Versorgung der durchführenden Ärzt*innen. Für die Durchführung sicherer
Schwangerschaftsabbrüche sind Medikamente wie Mifepriston und Misoprostol sowie
Geräte wie Absauggeräte, Kuretten und Ultraschalltechnik erforderlich. Diese
Mittel sind jedoch oft schwer erhältlich und müssen über spezialisierte
Bezugsstellen beschafft werden. Viele Ärzt*innen tragen die Kosten für diese
Ausstattung selbst, was die Versorgung erschwert.Wir fordern ein landesweites
Förderprogramm, das die Beschaffung und Ausstattung von Praxen und Kliniken
unterstützt, die Versorgung in ländlichen Regionen verbessert und das
Medizinpersonal in reproduktiver Medizin sowie queersensibler Versorgung fort-
und weiterbildet.
Verpflichtung öffentlicher Klinikenzur Durchführung von
Schwangerschaftsabbrüchen Immer mehr kommunale Träger schließen Abtreibungen aus
– teils als Bedingung für Klinikfusionen. Diese strukturelle
Verweigerungshaltung darf es nicht geben. Wir fordern: Öffentliche Kliniken
müssen zur Durchführung verpflichtet werden. Dazu braucht es landesrechtliche
Vorgaben und Förderbedingungen, die Versorgung sichern statt verhindern.
Barrierefreie reproduktionsmedizinische Versorgung für alle Geschlechter
Trans*, inter*, agender und nicht-binäre Personen haben aktuell faktisch kaum
Zugang zu reproduktionsmedizinischen Leistungen. Das widerspricht dem
Selbstbestimmungsgesetz und internationalen Menschenrechten. Wir fordern: Ein
inklusives Versorgungssystem, das niemanden ausschließt – unabhängig vom
rechtlichen Geschlecht.
Sprachmittlung und Beratung für alle – unabhängig von Herkunft, Status oder
Sprache Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte werden oft von Beratung
ausgeschlossen – etwa weil keine Dolmetschung zur Verfügung steht. Wir fordern
ein Landesförderprogramm für Sprachmittlung in Beratungsstellen sowie
verpflichtende Schulungen zu intersektionaler, queersensibler und
rassismuskritischer Beratungspraxis.
Frühzeitige Aufklärung und Beratung – auch in Schulen und Kitas
Reproduktive Gerechtigkeit beginnt mit Wissen. Deshalb fordern wir die stärkere
Zusammenarbeit zwischen Schulen und Beratungsstellen, inklusive
sexualpädagogischer Angebote und gendergerechter Sprache bereits in der Kita.
Paarberatung und Sexualberatung müssen neu aufgestellt und ausfinanziert werden.
4. Rechtsmedizinische Versorgung stärken
FINTA*-Personen (Frauen, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) sind
überdurchschnittlich häufig von geschlechtsspezifischer, sexualisierter und
häuslicher Gewalt betroffen. Dennoch bestehen in Baden-Württemberg, wie auch
bundesweit, erhebliche Versorgungslücken in der rechtsmedizinischen Betreuung.
Insbesondere mangelt es an diskriminierungssensibler, umgangssensiblel gegenüber
traumaerfahrungen und niedrigschwelliger rechtsmedizinischer Versorgung. In
vielen Regionen, insbesondere im ländlichen Raum, fehlen spezialisierte
Gewaltschutzambulanzen oder vergleichbare rechtsmedizinische Angebote
vollständig. Wo es sie gibt, sind sie häufig an die Bedingung einer
polizeilichen Anzeige geknüpft, was viele Betroffene abschreckt.
Hinzu kommen strukturelle Ausschlüsse: Viele medizinische Einrichtungen sind
cis-normativ organisiert, Anamnesebögen und Behandlungspraxen schließen trans,
inter- und nicht-binäre Personen aus. Rassismus, Klassismus, sprachliche
Barrieren und fehlende Barrierefreiheit verstärken diese Ausschlüsse zusätzlich.
Menschen ohne Krankenversicherung, mit Flucht- oder Migrationsgeschichte oder
mit Behinderung erfahren dadurch eine faktische Verweigerung rechtsmedizinischer
Hilfe.
Zudem fehlt es an Schutzräumen und einer angemessenen psychosozialen Nachsorge.
Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist bei vielen FINTA*-Personen
erschüttert, insbesondere wenn sie mehrfach marginalisiert sind. Alleine die zu
oft gestellte frage nach dem äußeren erscheinungsbild nach sexuellen Übergriffen
verdeutlicht das institutionelle Misstrauen der Justiz und Polizei gegenüber
FINTA* Personen. Nicht zuletzt ist die Datenlage alarmierend: Es gibt kaum
differenzierte Erhebungen zur Inanspruchnahme rechtsmedizinischer Angebote durch
FINTA*-Personen. Ihre spezifischen Bedarfe werden nicht ausreichend
berücksichtigt.
Wir als Grüne Jugend Baden-Württemberg setzen uns für eine
diskriminierungssensible, flächendeckende und rechtlich abgesicherte
rechtsmedizinische Versorgung ein, die die Realitäten und Bedarfe von FINTA*-
Personen endlich ernst nimmt. Eine bedarfsorientierte Versorgung darf nicht
davon abhängig sein, ob eine Anzeige erstattet wird. Sie muss barrierefrei,
anonym, niedrigschwellig und intersektional gedacht werden, unabhängig von
Geschlecht, Herkunft, Aufenthaltsstatus, Wohnort oder Versicherungssituation.
Deshalb fordern wir:
Den Ausbau von Gewaltschutzambulanzen und rechtsmedizinischen
Versorgungseinheiten mit spezifischer FINTA*-Kompetenz in ganz Baden-
Württemberg, insbesondere auch in ländlichen Regionen.
Die gesetzliche Verankerung und landesweite Umsetzung anonymer Spurensicherung
unabhängig von einer Strafanzeige sicherstellen.
Eine klare Zuständigkeit für die Finanzierung durch das Land definieren und die
Übernahme der Kosten für rechtsmedizinische Untersuchungen verbindlich regeln.
Mehrsprachige, barrierefreie und niedrigschwellige Informationsmaterialien zu
rechtsmedizinischen Angeboten bereitstellen – insbesondere auch in digitaler
Form.
In Zusammenarbeit mit queeren, feministischen und migrantischen Beratungsstellen
entsprechende Programme für Fachkräfte zu entwickeln und regelmäßig evaluieren.
Eine verpflichtende, geschlechtersensible Datenerhebung zur Nutzung
rechtsmedizinischer Versorgung durch FINTA*-Personen in Baden-Württemberg
initiieren.
Forschungsprojekte zu Barrieren, Bedarfen und Erfahrungen marginalisierter
Gruppen in der rechtsmedizinischen Versorgung gezielt fördern.
Begründung
beschlossen auf dem FINTA*-Rat am 28.6.2025 in Stuttgart
Begründung erfolgt mündlich
Unterstützer*innen
- Charlotte Stocker
- Theresa Fidušek
- Flora Wagner